Out of Nordstadt
Ein Nordstädter leistet Flüchtlingshilfe auf Lesbos
Letzter Teil - von Hendrik Müller
Anfang verpasst? Hier geht's zu:
Die letzte Woche meines Aufenthalts war angebrochen.
Nachdem in der vergangenen Woche zunehmend Leute von NO BORDER abgereist und sich die Zahlen der Anwesenden bei den Plena deutlich reduziert hatten, waren jetzt endlich wieder ein paar Leute zur Gruppe dazu gestoßen.
Darunter waren unter anderem drei Belgier mit einem Transporter, die explizit verkündeten. dass sie in der Küche für eine längere Periode arbeiten wollten. Ich weiss nicht, worüber ich mich mehr freuen soll - dass eine motivierte Ablösung in Sicht ist oder dass wir unser Auto ohne Bedenken für ein paar Tage einem befreundeten Mechaniker in die Werkstatt stellen können. Der Wagen ist durch die ausgiebige Nutzung inzwischen doch sehr gezeichnet. Die Türschlösser zicken immer häufiger herum und ein kleiner Auffahrunfall hat die Befestigung eines der vorderen Scheinwerfer so beschädigt, dass er nur mit Klebeband an der Flucht gehindert werden konnte.
Mir würden nur vier Tage zur Einarbeitung des neuen Teams blieben - wesentlich kürzer, als mir selbst zur Verfügung stand. Da ich eine solche Situation befürchtet hatte, hatte ich ein Notizbuch mit wichtigen Informationen angelegt, in dem ich alle Dinge niederschrieb, die ich während meines Aufenthalts gelernt und herausgefunden hatte.
Die Einarbeitung des neuen Teams lenkte ein bisschen von dem ab, was sich im großen Squat tat. Dort war inzwischen die Sorge vor einer Räumung so groß geworden, dass alle, die keinen Ärger mit der Polizei haben wollten, sich einen anderen Aufenthaltsort gesucht hatten. Sie waren in weniger bekannte Unterschlüpfe ausgewichen oder hatten sich in das unbeliebte Lager Moria zurückgezogen.
Warum haben die Leute Vorbehalte, in dem Lager zu wohnen?
Moria ist ein ehemaliges Militärgefängnis, etwa zehn Kilometer außerhalb der Hauptstadt Mytilini an einer Nebenstraße in den Bergen gelegen. Touristen kommen dort nicht aus Versehen hin - es macht den Eindruck, als wolle man die Flüchtlinge dort vor den Urlaubern verbergen. Im Prinzip gibt es dort Unterkunft, sanitäre Einrichtungen und Einkaufsmöglichkeit für Dinge des alltäglichen Bedarfs.
Was man dort aber nicht hat, ist Ablenkung.
Die Menschen hocken dort in der brennenden Sonne mit zahlreichen anderen in Containern untergebracht ohne die geringste Ablenkung oder Beschäftigung. Die dargebotene Verpflegung ist lieblos zusammengerührt und bietet keinerlei Abwechslung. Wer einen Sprachkurs oder ein Beratungsangebot besuchen möchte, muss entweder mit dem Bus nach Mytilini fahren oder, wenn die 90 Euro monatliches Taschengeld aufgebracht sind, zu Fuss die Straße entlang in die Hauptstadt laufen. Da das Geld für viele andere Bedürfnisse herhalten muss, sieht man dauernd Leute an den Straßenrändern laufen. Sie werden selten von Autos mit genommen, die Fahrer fürchten sich vor Kriminalität und den Strafen, die einem blühen, wenn man Flüchtlingen hilft.
Die Stimmung in Moria ist denkbar schlecht. Regelmäßig drehen in der Perspektivlosigkeit Menschen durch. Es kommt zu Messerstechereien, Vergewaltigungen, Raub unter den Insassen. Mit Protesten und Hungerstreiks versuchen die Menschen im Lager auf die dortigen Bedingungen aufmerksam zu machen.
Es dürfen nur die Mitarbeiter zugelassener Hilfsorganisationen in das Lager. Das führt dazu, dass Kleider-, Nahrungsmittel- und andere Spenden nur sehr schwer zu den Menschen gelangen. Einer der dort zugelassenen Versorger - Euro Relief - beharrt darauf, dass man das alleinige Recht auf die Versorgung der Lagerinsassen habe. Bei der aus den U.S.A. stammenden Organisation handelt sich um eine evangelikal orientierte Gruppe mit offensiv verstandenem Missionsauftrag. Immer wieder hört man von Bekehrungsversuchen an den mehrheitlich muslimischen Flüchtlingen. Man erzählt den Menschen, dass sie nicht nur besseres Essen und Bekleidung von Euro Relief bekämen, wenn sie zum Christentum konvertieren würden, nein es wäre auch die Freikarte für den direkten Weg nach Deutschland…
Wer auf diese Werbeversuche nicht eingeht, muss sich mit Einheitsfraß und allen anderen Nachteilen abfinden.
Es gibt es noch ein zweites Lager etwas näher an Mytilini - Karatepe. Dort können Frauen mit Kindern und Familien wohnen. Die Ausstattung ist nicht großartig anders als in Moria, die Menschen sind dort aber vor den Gewaltexzessen in Moria sicher.
Ein drittes Lager ist in der Nähe des Flughafens: PIKPA ist durch Privatinitiative und Spendenmittel in einem vor Jahren verlassenen Ferienlager eingerichtet worden. Dort werden Menschen aufgenommen, die aufgrund ihrer Lebensumstände in Karatepe nicht unterkommen oder in Mora bleiben können. Ein Team von Freiwilligen der Insel und aus aller Welt kümmert sich hier um Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen oder körperlichen Orientierung in Moria vermehrter Gewalt ausgesetzt sind. Hier werden aber auch demenzkranke oder psychisch kranke Flüchtlinge betreut.
Wer weder in KARATEPE oder PIKPA unterkommen kann, aber auch kein Interesse an Raub, Vergewaltigung und Mord hat, versucht daher, sich irgendwo anders auf der Insel zu verkriechen. Da sind die Lebensbedingungen in einer Abrissimmobilie ohne Strom, Wasser und sanitäre Einrichtungen oft attraktiver als die offizielle Unterbringung.
Durch die zunehmenden Repressionen entscheiden sich die Leute für die Flucht nach vorn. Wer illegal auf der Insel ist und sich nicht mehr verstecken möchte, versucht, an ein Schlauchboot oder Autoschläuche zu kommen, um mit einem solchen schwimmfähigen Untersatz zurück zu Türkei zu paddeln. Sie hoffen, bei der Landung an der türkischen Küste nicht entdeckt zu werden, um von dort die Flucht Richtung Europa zu versuchen oder um einen mehr als schlecht bezahlten Job als Schwarzarbeiter in der Landwirtschaft oder im Baugewerbe zu finden.
In den letzten Tagen haben ein paar unserer Leute auf ihrer Heimreise einen Refugee als Reisebegleitung mit auf die Fähre nach Athen genommen. Eine neue Frisur, etwas blasser geschminkt und andere Bekleidung reichen anscheinend, um bei Betreten des Schiffes nicht das Interesse der Kontrolleure zu wecken. Vielleicht ist es aber auch so, dass man zu Beginn der Touristensaison die Kontrollen an der Fähre etwas gelockert hat, damit die Flüchtlinge von der Insel verschwinden.
Es scheint sehr wichtig, dass die Touristen die Probleme von Lesbos nicht offen sehen können.
Dieser Eindruck beschleicht mich auch, als ich nach viel Fragen und Suchen mit der Hilfe von Anwohnern den Friedhof gefunden habe. Es ist eines von etwa fünf Gräberfeldern, auf denen Menschen begraben liegen, die auf der Flucht über das Meer ihr Leben verloren. In den Booten sterben immer wieder Flüchtlinge, weil sie den Strapazen der Überfahrt nicht gewachsen waren. Es werden auch immer wieder Leichen an die Strände der Insel gespült oder die Fischer finden sie in ihren Netzen. Mit dem Massenexodus in 2015 waren aber die Kapazitäten der Insel, mit muslimischen Toten umzugehen, schnell erschöpft. Innerhalb einer Woche gab es auf den Friedhöfen der Insel keine freien Gräber mehr. Man legte die Toten in die Kühlkammern der Krankenhäuser und mietete freie Kühlhäuser an. Zum Schluss sollten sich im Hafen auch noch Kühlcontainer stapeln, in denen man die Toten ablegte.
Der Sommer stand vor der Tür - wer Lesbos kennt, weiss, dass es dann schnell über 40 Grad warm werden kann und jeder, der kann, seine Klima-Anlage einschaltet. Das Kraftwerk der Insel ist für einen solchen Bedarf nicht ausgelegt, so dass die Bewohner der Insel auf tageweise Stromausfälle in den Sommermonaten eingestellt sind. Unter diesen Umständen konnte man die Toten nicht in den Kühlhäusern lassen. Die Verwaltung der Insel sah keine Lösung des Problems. Das führte dazu, dass private Initiativen ein paar Äcker ankauften, um dort Gräberfelder anzulegen. So sahen sich Flüchlingshelfer muslimischen Glaubens unvermittelt mit der Frage konfrontiert, ob sie in der Lage wären, Tote zu waschen und entsprechend ihren Gaubenssätzen zu beerdigen.
Nun stand ich von Fliegen umsummt auf einem solchen Acker im Sonnenschein. Die Vegetation hatte üppigst blühend alles überwuchert, so dass man die Gräber nur sehen konnte, wenn man aus der richtigen Richtung über das Feld schaute. Ich zählte mindesten 200 Gräber, die meisten ohne Namen. Die kleinen Marmortafeln tragen oft nur einen Hinweis auf das Geschlecht der Person, das Datum ihres Fundes und ein Aktenzeichen, das auf einen hinterlegte Genprobe in den Akten des roten Kreuzes verweist. Oft genug die letzte Chance, um einen vermissten Angehörigen zu finden.
So kann das Ende einer Reise also auch aussehen. Hier kommt niemand hin, um der Toten zu gedenken. Die Existenz dieser Gräberfelder wird verschwiegen, als seien sie etwas, wofür sich die Insel schämen müsste - Dabei müssten diese Gräber da sein, wo die Verantwortung dafür liegt, dass sich nach wie vor zahlreiche Menschen unter lebensgefährlichen Umständen auf den Weg nach Europa machen.
Ich war froh, als ich meine Aufnahmen gemacht hatte und diesen Ort hinter mir lassen konnte.
Es war mein letzter Tag. Wir wollten uns den Abend auf der Terrasse des Appartements zusammensetzen, um zu Bier und griechischen Dingen, die man im Backofen zubereiten kann, mal entspannt über die letzten vier Wochen zu reden. Es war eine der seltenen Gelegenheiten, zu denen wir tatsächlich mal alle am selben Ort waren - schade, dass der Einsatz nicht die Zeit für mehr gelassen hat.
Am anderen Morgen um fünf pellte ich mich verkatert aus dem Bett. Schnell die Sachen in die Tasche gestopft und auf den Weg zum Flughafen gemacht Eine Mitbewohnerin hatte sich selbstlos dazu bereit erklärt, mich so früh am Tag da hin zu fahren.
Am Flughafen war es unvermutet lebendig. Eine Menge Leute wollten mit der ersten Maschine nach Athen fliegen. Unter ihnen mehrheitlich Touristen, teilweise in Begleitung von Straßenhunden, die für ein neues Leben an einem anderen Ort adoptiert wurden. Sie haben das Glück, dass sie nur das Herz eines Menschen erobern müssen - für sie ist es dann überhaupt kein Problem, die Insel zu verlassen…
Die Maschine flog nach dem Start einen Bogen über das Meer. Aus meinem Fenster sah ich im Wasser unter mir einen kleinen, orangenen Gegenstand treiben - ich wollte nicht raten, was das wohl sein könnte…
PS: Die Noborder Kitchen braucht für die Finanzierung von Mahlzeiten und Kochkisten pro Woche mindesten 800 Euro. Um diese Summen aufzubringen, ist man massiv auf Spenden angewiesen.
Nähere Informationen zu dem Projekt finden sich hier: https://noborderkitchenlesvos.noblogs.org